"Es ist nicht der Berg, den wir bezwingen - wir bezwingen uns selbst." Dieses Zitat von Edmund Hillary beschreibt meine Gefühlslage während des Mehrseillängen-Kletterkurses ziemlich gut. Auch wenn ich nicht wie Sir Edmund Hillary als Erstbesteiger den Mount Everest erklommen habe, sondern "nur" einen Basiskurs im alpinen Sportklettern gemacht habe, musste ich mehrmals meinen inneren Angsthasen überwinden.
Der Kurs wurde unter dem Titel "Kletterkurs Level 1 im alpinen Klettergelände" vom DAV Summit Club (DAV = Deutscher Alpenverein) angeboten und dauerte 5 Tage. Unsere Gruppe bestand aus insgesamt 6 Teilnehmern, alle im Alter zwischen Ende 20 und Ende 30, sowie einem Bergführer. Geklettert waren wir alle schon, jedoch auf ganz unterschiedlichem Niveau: Während ich und ein Pärchen aus Dortmund (fast) ausschließlich über Erfahrung in der Kletterhalle verfügten, kletterten die beiden "Freiburger" und die "Münchenerin" regelmäßig am Fels. Unser gemeinsames Ziel war das Begehen von Mehrseillängen-Routen in Zweier-Seilschaften. Trotz oder gerade aufgrund der sehr unterschiedlichen Charaktere wuchsen wir schnell als Gruppe zusammen, denn beim Mehrseillängenklettern muss sich jeder auf den anderen verlassen können. Untergebracht waren wir in Mehrbettzimmern auf der Blaueishütte im Nationalpark Berchtesgaden. In unmittelbarer Umgebung der Blaueishütte befinden sich mehrere Klettergärten fürs alpine Sportklettern sowie zahlreiche Mehrseillängen-Routen in den Schwierigskeitsgraden III bis IX. Die Hütte ist auf Kletterer eingestellt, gut für Gruppen geeignet und sehr gemütlich.
Nach dem Aufstieg zur Blaueishütte am Nachmittag des ersten Kurstages, dem Kennenlernen der anderen Teilnehmer und der Materialausgabe, wurden wir am zweiten Tag von unserem Bergführer in die "Welt der Knotenkunde" eingeführt. Ankerstich, gelegte Acht, Mastwurf, HMS-Knoten, Prusik, Sackstich, doppelter Bulin - all diese Namen und die damit bezeichneten Knoten waren mir bisher kaum ein Begriff. Also hieß es üben, üben, üben... Denn die richtige Verwendung der unterschiedlichen Knoten ist entscheidend für die Sicherheit im alpinen Felsklettern. Nach der Theorie ging es an die Wand, um das Erlernte anzuwenden - erstmal nur auf kurzen, einfachen Sportkletterrouten, so dass der Bergführer uns gut im Auge behalten und uns Tipps geben konnte. Nachdem wir am dritten Tag gelernt haben, wie man einen Standplatz zum eigenständigen Ablassen mithilfe eines Tubes umbaut, folgte das erste Highlight: Ich seilte mich selbstständig von einer ca. 20 Meter hohen Wand ab. Das hat mich einiges an Überwindung gekostet: Hab ich alle Knoten korrekt gebunden? Ist das Tube richtig herum eingelegt? Hält mich das Seil? Wie schnell geht es runter? Als ich dort oben stand, kamen mir völlig irrationale Ängste in den Kopf... Das Gefühl eine fast senkrechte Wand herunter zu laufen bzw. zu gleiten war fantastisch und über den Prusik-Knoten ließ sich die Geschwindigkeit problemlos steuern. Ihr könnt euch schon denken, dass ich mich beim ersten Mal im Schneckentempo abgelassen habe! Nach dem Abendessen erhielten wir eine Einführung in das Lesen von Topos sowie die Planung von Mehrseillängen-Routen. An Tag vier stand die erste Mehrseillängen-Tour bevor - der Plattenweg im III. und IIII. Schwierigkeitsgrad direkt hinter der Blaueishütte. Etwa 300 Höhenmeter in 8 Seillängen sollten wir erklettern. In 2er-Seilschaften machten wir uns auf den Weg und ich merkte schnell, dass das alpine Klettern ein ganz anderes Kaliber ist als Hallenklettern - keine bunten Griffe, die die Route vorgeben, winzige Tritte und Griffe, in den ersten Seillängen fast ausschließlich Reibungskletterei auf geneigten, glatten Felswänden. Da meldete sich mein innerer Angsthase wieder zu Wort: "Was passiert wenn du abrutscht? Sind hier überhaupt Tritte? Du musst ganz auf die Trittsicherheit deiner Füße vertrauen. Der schwere Rucksack und die Bergschuhe am Gurt bringen dich aus dem Gleichgewicht. Das hier ist nichts für dich, bleib lieber in der Halle!" Aber einmal in der Route, konnte ich meine Seilschaftspartnerin wohl kaum alleine weiterklettern lassen, also tastete ich mich Zug um Zug sowie Seillänge um Seillänge vor. Ich glaube auch die anderen Teilnehmer kostete es etwas Überwindung die Felsplatten hochzuklettern, aber am Ende standen wir alle glücklich oben. Statt der veranschlagten 2 Stunden für die Mehrseillängen-Route benötigten wir allerdings 5 Stunden! Das sei jedoch nicht ungewöhnlich für Anfänger, meinte unser Bergführer. Also an Tag fünf direkt die nächste Mehrseillängenkletterei - wir kamen schon deutlich schneller voran, die Handgriffe und Seilkommandos wurden etwas intuitiver, das Klettern fiel leichter und ich konnte am Standplatz auch mal kurz den Blick schweifen lassen und das traumhafte Bergpanorama genießen. Nach der dritten Seillänge zog dichter Nebel auf und es kühlte deutlich ab, wir mussten das Wetter im Auge behalten und auch die Gewitter- bzw. Regengefahr für den Abstieg berücksichtigen. Trotz des Nebels konnten wir die Tour beenden, wie geplant über den Normalweg absteigen und als wir gerade wieder die Blaueishütte für unsere Mittagspause erreicht hatten, begann es heftig zu regnen... Was für ein Glück!
Glossar
Mehrseillänge: mehrere (mindestens 2) Kletterouten werden hintereinander geklettert; eine Seillänge reicht jeweils von einem zum nächsten Standplatz
Zweier-Seilschaft: eine Seilschaft besteht aus dem Kletterer und einer sichernden Person; Vor- und Nachsteiger; es gibt auch Dreier-Seilschaften
Topo: Kurzform für Topographie: bezeichnet die grafische Darstellung einer Kletterroute; Kletterer benötigen die Topo um daraus vor der Begehung der Route den Schwierigkeitsgrad, die Länge, den Verlauf sowie benötigte Sicherungsmittel abzuschätzen
Kommentar hinzufügen
Kommentare
Liebe Vera,
nachdem du jetzt soviel gelernt hast und so großen Mut gezeigt hast, bedauerst du bestimmt, dass du ein "Flachlandtiroler" bist.
Schade, dass die wunderschöne, erhabene Bergwelt so weit entfernt von uns ist.
Das war wieder eine tolle Leistung von dir!
Hut ab vor der Überwindung des inneren Schweinehund, das ist bestimmt ein Kampf mit sich selbst. Großen Respekt davor
Liebe Vera, habe mir heute noch einmal deinen Block angesehen und bin beeindruckt. Eine tolle Leistung, die du in der kurzen Zeit geschafft hast. Bei deinen Fotos ist mir schon ein kalter Schauer über den Rücken gelaufen. Du kannst stolz auf dich sein. Ich wünsche dir, das immer die richtigen Seile für einen sicheren Abstieg geknotet werden.
Hallo Vera, du bist über dich selbst hinaus gewachsen und kannst stolz auf dich sein.